Ein Bergsteiger hängt an der Steilwand in seinen Seilen. Mit all seiner Kraft hatte er versucht, den Berg noch vor der einbrechenden Dunkelheit zu erklimmen. Doch dann
passierte es. Die Verankerung riss heraus, die Stirnlampe rutschte vom Helm und er stürzte in die Tiefe der Nacht. Doch am Ende haten die Seile ihn doch noch gehalten.
Gottseidank. Nun herrscht nichts als Finsternis um hin herum. In seiner Verzweiflung schreit er nach Gott - und hört plötzlich eine Stimme: „Wenn Du von mir gerettet
werden willst, dann kappe das Seil.“
Der laute, langgezogene Schrei des Bergsteigern als Antwort auf dieses schier unmögliche Hilfsangebot fährt einem durch Mark und Bein. Nein! So grausam kann Gott
doch nicht sein! Gott kann doch den Tod nicht wollen! Was ist das nur für ein Gott?
Der oder die Beterin des Psalms 62 ermutigt uns, in der Not stille zu werden in unserer Seele. Denn die Seele, hebräisch „nefesch“, ist quasi das „Organ“ zwischen Rachen und Magen, durch das wir Zuversicht atmen und erfahren: „Gott ist mein Fels, meine Hilfe und mein Schutz. Er ist unsere Zuversicht.“
Es tut mir gut, diese tausende von Jahren alten Psalmworte zu lesen und von diesem uralten Vertrauen zu hören, das kraftvoll bis ins Heute hineinwirkt. In mich hineinwirkt. Denn ich merke, wie sie mich tatsächlich ruhiger und zuversichtlicher machen. Doch ich hänge ja nicht total in den Seilen. Könnte ich sonst
wirklich loslassen. Mich Gott ganz hingeben - selbst in tiefster Todesangst?
Am Morgen des nächsten Tages ist der Bergsteiger an der Steilwand erfroren. Er hängt noch immer in seinen Seilen - nur einen Meter über dem Boden.
Mit herzlichen Grüßen
Ihre Pfarrerin Heidi Wolfsgruber